Liebe Gabi,
Disziplin, ein Schreckgespenst im Wörterdschungel! Das lateinische Wort disciplina heißt “Zucht”, “Lehre”, aber auch “Schule”. Disziplin kann meinen: “Gehorsam des Befehlsempfängers”, eine Einzelwissenschaft (“er ist fit in allen Disziplinen” meint, dass er beschlagen in vielem ist), eine Sportart oder eben Selbstdisziplin.
Disziplin wird immer da gefordert, wo Menschen etwas tun sollen, wo Leistung erwartet wird. Ich habe 13 Jahre klassisches Ballett gemacht. Mein erstes Wort in Verbindung mit einem Rohrstecken war “Diiiiisziplinnnn”. Bis zur dritten Klasse hielt ich das für eine bestimmte gestreckte Rückenhaltung mit anmutig ausgebreiteten Armen. Die Tragweite des Wortes wurde mir stetig bewusster ab den ersten Spitzenschuhen. Da habe ich viel Disziplin “eingetrichtert” bekommen, aber einen Kampf gewonnen – die Lehrerin hat es nicht geschafft, mir mein “Nein, mach ich nicht” auszutreiben.
Was du angesprochen hast, berührt die Deutung “Zucht”. Das ist ein negativer Begriff für uns: Zucht & Ordnung, Zuchthaus, züchtig sein. Da haben wir eine Obrigkeit, der zu gehorchen ist und eine Schafherde, die zu folgen hat, wenn der Hund sie nicht “zurück ins Glied!!” beißen soll.
Was gemeint ist, ist Disziplin im Sinne von Selbstführung oder Selbstregulation, neudeutsch Self Management. Wer sich nicht selbst führen kann, kann auch keinen anderen führen. Da finde ich den Begriff nicht mehr negativ, sondern als Herausforderung. Wer bin ich? Was kann ich? Wo stehe ich? Was will ich erreichen? Das setzt voraus, dass ich still werde, Erkenntnis über mich selbst gewinne, Ziele ausarbeiten und mich für ihre Erreichung einsetzen kann. Disziplin in diesem Sinne ermöglicht mir, mir das Wissen anzueignen, was ich brauche, um meine Ziele zu erreichen. Sie bringt mich auf den Weg und führt dazu, dass ich mich reflektiere in meinem Können und meinem Unvermögen.
Disziplin bei Krankheiten? Seltsame Vorstellung, aber bei der weit verbreiteten Jammerkultur möglicherweise notwendig. Die alten Griechen kannten die Kunst der Menschenführung im Krankheitsfall. Da musste der Mensch vor dem Tempel von Kos ganz klar sagen, dass er Heilung wünscht und wer das Tor durchschritt, wusste genau: Das wird ne Menge Arbeit geben. Die kann mir keiner abnehmen, die muss ich selbst tun bis hin zu Krise und Katharsis.
Wenn wir heute dem Begriff Disziplin begegnen, merken wir die subtile Forderung dahinter. Einerseits der Wunsch anderer, uns zu beherrschen, andererseits die Aufforderung des Wortes an sich, uns selbst zu beherrschen. Damit sind wir beim Tempel von Delphi: Erkenne dich selbst. Wenn wir uns erkannt, unsere Stärken und Schwächen gesehen und angenommen, uns ausgerichtet haben auf das, was wir erreichen möchten, haben wir alles an Disziplin erworben, was es braucht, um Durststrecken auf dem Weg zu überstehen. Dann wird aus dem Besuch der Lebensschule Lebenskunst und vielleicht, am Ende, Lebenskönnerschaft. Insofern: nehmen wir dem Wort Disziplin den Rohrstockbeigeschmack und betrachten es als herzliche Einladung, uns selbst kennen zu lernen. Ein Mensch, der sich kennt und um seine Ziele weiß, entwickelt aus sich heraus die notwendige Disziplin. Er braucht keine “Zucht”. Er weiß, dass das Leben seine Hürden hat. Er nimmt sie einfach oder er geht außen herum, je nach Fähigkeit. Aber er geht.
Disziplin im Zuchtsinn braucht keinen Urlaub. Das bedeutet ja, sie kehrt gestärkt zurück. Nein danke. Wer darauf angewiesen ist, stützt sich auf eine zerbrechliche Macht, er wird nicht geliebt, nur gefürchtet, das ist nie von Bestand. Angst erzeugt nie Liebe.
Nehmen wir lieber den Begriff der Lebensschule – die ist nicht immer spaßig, aber da wir unser Ziel vor Augen haben, werden wir nach und nach die notwendigen Seelenkräfte entwickeln. Dann sind wir brave (im Sinne von beherzte) Schüler, hier schließt sich der Kreis: lateinisch discipulus/a im Labor (= Mühe) des Lebens.
Allen einen Tag mit vielen Möglichkeiten zur Selbstregulation und einem guten Gespür, wann wir von außen diszipliniert werden sollen, um den Erwartungen anderer zu entsprechen. Das könnte viele Erkenntnisse bringen. Und herzliche Einladung, mitzukommentieren. Es gibt sieben Milliarden Menschen. Also auch mindestens so viele Meinungen!