Liebe Gabi,
nein, das denke ich nicht. Früher waren die Arbeitstage von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr abends in Fabriken, die Landwirte arbeiteten länger den Sommer über. Hausfrauen hatten weder Kühlschränke noch Bügeleisen mit Dampfstation, Wäschewaschen und Brotbacken waren tagesfüllende Tätigkeiten. Es gab weder Kinderkrippen noch Staubsauger. Das vielbesungene Mittelalter war ebenfalls alles, aber nicht idyllisch. Die Industrialisierung ein Alptraum mit Kellerwohnungen und offener TBC. Die Kriegszeiten – indiskutabel.
Warum die Menschen heute so erschöpft sind? Weil sie so viel Sinnloses tun und wie sie alles tun – drei Dinge gleichzeitig. Wir sind NICHT multitaskingfähig, auch wenn Mütter das permanent behaupten oder Frauen darauf “stolz” sind. Fragwürdiger Stolz mit hohem Preis. Rechnen wir die Zeit vor dem PC, vor dem Fernseher oder in der Freizeitindustrie – da holt man locker in der Woche einen “freien Sonntag” heraus.
Die Menschen sind geistig erschöpft, was sie der selbstgemachten Reizüberflutung verdanken. Früher waren die Leute am Abend nach getaner Arbeit rechtschaffen müde. Eine körperliche Müdigkeit ist herrlich, eine geistige Erschöpfung grausam.
Nein, wir haben heute so wenig zu tun wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Aber wir sind nicht mal ansatzweise in der Lage, mit unseren 24 Stunden am Tag was anzufangen. Unser Aktionismus ist oft nur dazu da, dass man nicht so schnell bemerkt, wie wenig Sinniges wir wirklich tun. Und wie unehrlich wir sind – “ich habe keine Zeit”, ach, ist das schick! Und jeder sagt das so! “Bin voll im Stress!” – mich interessiert immer die Frage: Okay, und was tust du für die anderen? Mir hat gestern ein Nachbar erzählt, dass er nach sechs Stunden Mountainbiken jetzt voll schnell duschen muss, weil er am Abend mit Freunden grillt und morgen, echt, voll die Hatz, da muss er schon um fünf raus (sonst steht er um 6 auf), “stell dir mal vor, aber wir fahren in die Rhön zum Wandern und Biken und kommen dann erst spät heim.” Absolut in Ordnung, keine Frage. Aber ein Luxus, den sich die Altvorderen nicht leisten konnten.
Die Stunde in der Kirche war für viele Frauen früher die einzige Stunde, in der die Hände ruhen durften. Und im Mai die Maiandachten. Wofür danken wir? Für den Freizeitwahn? Für unsere “Vielbeschäftigung mit Nichtigkeiten”? Was im Leben wirklich zählt, bemerken die ganzen “Overloadfreaks” dann, wenn sie im Krankenhaus liegen und an der Kinderkrebsstation vorbeilaufen. Da rasen die Zwerge mit Bobbycars herum, an denen die Tropfenständer befestigt sind, mit ihren Glatzen auf der Isolierstation. Oder wenn ein Unglück geschieht, da wachen manche dann auf aus ihrer selbstgeschaffenen Scheinwirklichkeit, in der sie so wichtig sind.
Meine Klienten müssen oft Listen führen, was sie denn den ganzen Tag WIRKLICH tun. “Drei Stunden chatten”, “Mittags zwei Stunden hinlegen”, “am Abend fernsehen schauen” – das ist Standard. “Und was tust du für Menschen, die niemanden haben?” “Die haben doch ihre Pfleger” – jep. Freut euch auf euer Alter.
Vielleicht bin ich nicht der richtige Gesprächspartner für diese Frage. Es kann gut sein, dass ich nur einen verzerrten Blick auf die Realität habe. Aber als Historikerin habe ich mich Jahre mit dem Leben in der Vergangenheit beschäftigt, als Therapeutin mit dem Leben im Jetzt und ich stelle fest – die “Müdigkeit” hat sich vom Körper auf den Geist verschoben, die “Nutzung der Zeit” hat sich sehr verschlechtert. Die Ablenkungsindustrie hat längst Besitz ergriffen von den Menschen und gaukelt ihnen vor, wie Leben zu sein hat. Immer mehr Menschen erkranken und merken nicht, dass das hausgemacht ist. Und dass sie ins Tun kommen müssen, wenn sie rauswollen – “öh, nö, gibts da keine Pillen für?” Noch Fragen?!
Werdet schöpferisch, wenn ihr erschöpft seid. Bringt Sinn in euer Leben. Und tut endlich mal nur das, was ihr tut. Wenn ihr geht, geht, wenn ihr lest, lest ihr und wenn ihr lacht, tut es aus dem vollen Herzen. Und stellt einen Wecker für die Jammerzeit, damit das nicht auch noch ausartet. Das darf sein, aber bitte nicht als Selbstläufer. Und ändert das, was nicht passt.
In diesem Sinne einen sehr schöpferischen Sonntag, Ich gehe jetzt mit dem Bienenwart zu den Bienen, weil wir schauen, was unsere zigtausend fleißigen Damen brauchen und ob alles gut für sie ist. Und ja, das kostet echt viel Zeit. Komischerweise haben viele um uns herum seitdem Obsternten in ihrem Garten und eine Blütenpracht in den Beeten. Nur wo es herkommt – das wissen sie nicht. Und dass das richtig viel zu tun ist auch nicht. Sie sehen es nicht, weil sie heute schon früh losgefahren sind, um etwas zu erleben. Ich bin mir sicher: wir werden gleich auch ne Menge erleben. Pro Kasten rund 30.000 Bienen, die es nicht cool finden, wenn wir den Deckel aufmachen, die aber froh sind, wenn wir ihnen weitere Rahmen reinstellen, damit sie ihrer Flügel Arbeit auch unterbringen. Übrigens – die Bienen arbeiten auch am Sonntag. Wie Bauern auch müssen sie nach dem Wetter gehen und wie die können die noch die Zeichen am Himmel lesen. Unser Nachbar hat gestern gegoogelt, welches Wetter heute in der Rhön ist. Also frage ich – in welcher Welt lebt ein Mensch? Hier, jetzt, im Leben? Oder irgendwo zwischen virtuellem Dasein und heute Abend vermutlich das: “Boah, ich bin voll gestresst, weißt du, wie viele Idioten heute in der Rhön mit ihren Rädern waren? Wenn die wenigstens fahren könnten! Die besten Pisten, da bleiben die stehen!!” – ich staune einfach gern. So oder so.
Eine gute Zeit
Christine