Liebe Gabi,
Polterabend – einer der vielen schönen Bräuche, die wir haben. Ich denke, dass wir eine Menge großartiger Bräuche in unseren Breiten haben, aber solche Dinge sind zunehmend in Vergessenheit geraten, denn Brauchtum ist etwas, das gepflegt sein will. Zwar ist das Tragen von Dirndln über Bayern hinaus “très chic” geworden und Silvester feiert man mit viel Sekt und Bleigießen, besten Vorsätzen und so weiter, aber der tiefere Sinn hinter unseren Bräuchen ist nunmehr fast unbekannt.
Das Brauchtum verbindet uns eng mit dem Glauben, der kann auch mal ganz abergläubisch sein. Seit alters her vertreibt man böse Geister mit Lärm und Feuer, mit Krach und Glockengeläute, die Perchtenzüge in den Bergen in den Raunächten zeugen davon. Wir haben rund ums ganze Jahr immer wieder die Möglichkeit, uns an Bräuche zu erinnern. Im neuen Monat wird es das Johannifeuer zur Sommersonnenwende sein, wenn die Mutigen über die Glut springen und das Johanniskraut blüht mit seinen gesprenkelten Blütenblättern, die der Teufel angeblich vor Wut mit seinen Krallen hineingeritzt hat, weil das Kraut nicht aufhören konnte zu heilen.
Eine Ehe ist auf Dauer angelegt, zumindest theoretisch. Da braucht es schon eine Menge gut wirksamer Bräuche, damit sie auch gelingt. Bei der Halbwertszeit der Ehen heute und der Tatsache, dass jede dritte Ehe geschieden wird, ist immer so die Frage, was denn eine Beziehung zusammenhält. Da gehören die Bräuche, die Rituale besonders dazu. Ein Paar, das gemeinsame Rituale kennt, das miteinander bewusst umgeht, hat beste Chancen. Ehen sind kein Vergnügen, sie sind Arbeit mit gegenseitigem Wachstum. Mal rast der eine voran, mal der andere, wichtig ist, zwischendurch immer wieder auf den anderen zu schauen, wo er ist, damit der Abstand nicht zu groß wird. Ein guter Brauch für Ehen ist Achtsamkeit. Nehme ich den anderen wahr, wie er ist und wie er sich entwickelt, oder verharre ich im Bild der jungen schönen Braut, des feschen Bräutigams und glaube, dass das 40 Jahre so bleibt? Habe ich Mut, immer wieder neu anzufangen, immer wieder Ja zu sagen, den Menschen an meiner Seite immer wieder neu zu sehen oder mutiert er zum Möbelstück, austauschbar, leider mit Ton?
Die beiden, zu deren Polterabend du heute gehst, kennen sich schon einige Jahre. Sie haben sich beschnuppert. Und doch ist eines sicher: wir kennen unseren Partner nie restlos. Schön, wenn dieser Rest aus Magie und Mythos besteht, weniger aus Abgrund und Irrungen. Ein bisschen Zauber und Aufregung braucht jede Ehe, mehr, je länger sie dauert. Sich immer wieder neu finden und sich darüber freuen – das ist die Kunst. Und dazu helfen Rituale, Bräuche, Sitten, die die Familie sich selbst gibt. Ein gemeinsames Sonntagsfrühstück mit Kerze, ein festes Date der Partner unter der Woche, egal, wie viel Stress gerade ist, gemeinsame Hobbys und eine gute Gesprächskultur vielleicht. Dann kann es ruhig auch in der Ehe mal heftig krachen und einiges zu Bruch gehen. Das verkraftet eine Ehe, die eine gute Basis hat.
Insofern wünsche ich dem Paar einen gelungenen Polterabend, aber noch viel mehr die Kraft, den Mut und die Freude, immer wieder gemeinsam neu anzufangen, eine neue Basis zu finden, weil sich Menschen entwickeln und wachsen – möge es ein gemeinsames Wachsen sein.
Und wir anderen nutzen derweil die gute Möglichkeit, wieder zu feiern und sich daran zu erinnern, was wir selbst mal für Hoffnungen und Träume bei unseren Hochzeiten hatten – und sich zu freuen, dass es uns alle gibt.
Was uns letztlich im Glauben an das Gelingen einer Beziehung hält, ist weniger das zerbrochene Geschirr am Polterabend sondern das, wofür es steht: Altes muss immer wieder gehen, ersetzt werden durch einen neuen, aber immer liebenden Blick. In diesem Sinne eine schöne Feier
Christine