Liebe Gabi,
alle Menschen, die in sozialen Settings arbeiten, brauchen einen guten Schutz für sich selbst. Das ist Bestandteil unserer Arbeit. Kein Therapeut wird nicht von seinen Klienten berührt. Was Menschen manchmal tragen müssen, ist groß. Riesengroß. Aber: wie tragen diese Last nicht. Deshalb sind wir emotional mit viel Übung ein Stückchen entfernt. Therapeuten lernen, sich zu schützen, für sich zu sorgen und haben auch die Möglichkeit, sich in der Supervision gut auszutauschen.
Wenn die Frage darauf zielt, wie wir Menschen stärken können, dass sie selbst die Situation gut durchstehen können: da hast du vieles genannt. Soziale Netze sind wichtig. Im Notfall trennt sich die Spreu vom Weizen, wird uns klar, auf wen wir zählen können und wer sich bei uns nur an “guten Tagen” gütlich tut. Da wird auch schlagartig klar, was generell im Leben wichtig ist – insofern sind diese Situationen oft ein Befreiungsschlag hin zu dem, um was es im Leben wirklich geht. Jeder Mensch hat seine individuellen Kraftquellen und auch seine ureigenen Ressourcen. Wie hat er früher Krisen bewältigt, was hat ihm “immer” geholfen – das braucht er auch in einer aktuellen Notlage. In der Arbeit schauen wir nach diesen Strategien und zeigen auf, wie der Einzelne an seine Resilienzkräfte kommt. Und manchmal, wenn die Last so groß ist, dass sie erst einmal nicht tragbar ist, zeigen wir, wie sie abgelegt, vielleicht aufgeteilt, auch auf mehrere Schultern gelegt werden kann. Und wie es geht, dass man von einem Tag zum anderen, manchmal nur von einer halben Stunde zur nächsten überlebt.
Der Glaube kann Wunder bewirken. Und die Liebe kann das. Deshalb suche ich nach solchen Kraftquellen, und wo sie nicht zu finden sind, müssen wir nehmen, was da ist. Ich habe noch keinen einzigen Menschen gesehen, der nicht irgendetwas im Leben hat, das er mag, das ihn trägt, das ihm hilft. Und dann bauen wir auf dem auf, was ist.
Schicksalsschläge können unfassbar groß sein. Manchmal kann man nur die Tage überstehen und es bewegt sich nichts. Nicht selten warten Menschen lange auf Diagnosen, darauf, dass Unverständliches “einen Namen” bekommt, denn dann “kennt” man es. Nichtwissen belastet am schlimmsten, schlimmer als Fakten. “Leben Sie die Fragen, dann wachsen Sie eines Tages in die Antworten hinein”, riet Rilke. Das mag angesichts schlimmer Prüfungen “zu leicht” klingen. Aber genau das ist der Weg. Nehmen, was ist und darauf vertrauen, dass es Wege hinaus geben wird.
Solange Menschen im Kontakt bleiben, miteinander sprechen und sich öffnen können, wird einer herkommen und einen Topf Hühnersuppe bringen, eine Wolldecke umlegen oder gemeinsam weinen. Unter jedem Dach ist ein Ach. Die Bewältigung von Schicksalsschlägen ist ein langer Weg. Aber keiner muss ihn alleine gehen.
Natur heilt, Musik heilt, die menschliche Begegnung in Liebe heilt, Glaube heilt, Kreativität heilt. Von einem zerbrochenen Teller können wir vielleicht nicht mehr essen. Aber wir können Mosaiksteinchen daraus machen und Neues gestalten. Die Narben, die uns das Leben schlägt, halten oft sehr gut. Aber bis dahin ist es ein langsames Heilen von innen heraus.
Machen wir die Augen auf, wo die Nachbarn Hilfe brauchen und vertrauen wir darauf, dass wir Hilfe bekommen, wenn wir sie benötigen. Das ist Menschsein auch.
Herzensgruß
Christine