Liebe Gabi,
Zeugniswoche – ja! Die meisten Schüler erreichen das Klassenziel, andere nicht. Und es gibt immer wieder Eltern, die das Nichterreichen total überrascht. Die das ganze Jahr über wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, wie es in der Schule geht. Nun mag das pädagogisch wichtig sein – Eigenverantwortung und so weiter. Aber: wenn das Resultat dann so ausfällt, ist es auch nicht gut.
Noten – darüber streiten die Vertreter vieler Schulen, ob Noten wichtig sind. Es kommt aufs Kind an, manche Kinder brauchen den Wettbewerb, den Vergleich, andere nicht. Ein Pauschalurteil ist wenig zielführend.
Ich finde, die wichtige Frage ist: ist das Kind auf der zu ihm passenden Schule? Muss ich ein handwerklich super begabtes Kind aufs Gymnasium zwingen, damit es Jahre unglücklich ist und vielleicht seine Begabung verliert? Passen Schultyp, Schulform und ausgewählte Sprachen zum Kind oder kann es sich neu orientieren, wenn klar ist, dass es nicht passt? Vielen Eltern fällt es schwer zu akzeptieren, dass das Kind nicht der Erfüllungsgehilfe für eigene Träume ist. Entscheidend ist, genau hinzuschauen, welche Fähigkeiten, Begabungen, Ressourcen mein Kind hat und es individuell darin zu bestärken. Wenn mein Klo verstopft ist, freue ich mich über einen Klempner, der seinen Job versteht, beim Auto ebenfalls und beim Zahnarzt finde ich es angenehm, wenn er ebenfalls sein Metier beherrscht. Drei Berufe, drei Menschen, drei unterschiedliche Ansprüche an das, was Schule leisten soll.
Meiner Meinung nach sollte Schule den Charakter eines Menschen zur Reife bringen, ihn fördern, fordern, ihm Freude an der Gemeinschaft, am gemeinsamen lernen bringen. Und Raum geben für das Individuelle, für ein Musikinstrument, Sport, Freundschaften pflegen. Ja klar, ich träume weiter. Aber der uniforme Abiabschluss – ist das den Krampf am Nachmittag in vielen Familien wert? Die Minderwertigkeitskomplexe, die Schreierei, die abgekauten Nägel und überforderten Nachhilfelehrer? Schauen wir doch genau aufs Kind und lesen an ihm ab, was ihm zum Besten gereicht. Aber solange Status diese Bedeutung hat und das Abitur als Nonplusultra gilt, sehe ich weiter schwarz fürs Kindswohl.
Ich wünsche allen Kindern, dass sie die Schulen besuchen können, die zu ihnen passen, dass ihre Eltern reif genug sind, ihre individuellen Grenzen zu achten und sie im Rahmen ihrer Fähigkeiten zu fördern. Ich wünsche allen Eltern, dass sie das Schuljahr über wach und liebevoll den Weg ihres Kindes begleiten, sich kümmern, wenn es Probleme hat und herausfinden, wo es klemmt. Und ich wünsche allen Lehrern, dass sie sich in den Ferien gut erholen und im neuen Schuljahr mit Freude wieder an den Start gehen – neugierig auf die Wundertüten, die die Kinder sind. Gewillt, gemeinsam zu arbeiten und gemeinsam Freude zu erleben.
Die wichtigste Schule ist das Leben. Aber vorher steht die Regelschulzeit im Raum. Menschen wie Johannes Heimrath und viele andere haben gezeigt, wie Schule auch gehen kann, sind mutig eingestanden für die individuelle Förderung. Wenn ich sehe, wie viele Familien an ihre Grenzen kommen, weil das Thema Schule ein Kampfthema geworden ist, tut es mir weh. Oft liegt es am mangelnden Dialog zwischen Eltern, Kindern und Schule. Oft an Einsicht, oft an klarer Entscheidung “du gehst runter von der Schule und auf diese Schule” – da wird nachhilfetechnisch gepimpt und gefördert, bis in der Oberstufe klar ist – willst du auf ein wackliges Fundament ein dickes Dach setzen, kracht der Spaß im falschen Moment zusammen. Mehr Mut zum individuellen Bildungsweg. Mehr Mut zur klaren Entscheidung. Und viiiel mehr Mut zum offenen Gespräch über wahre Begabungen.
Das Thema Schule ist ein Reizthema. Und wenns Zeugnisse gibt, ist das Thema erst recht aktuell. Ich denke so – individuelle Förderung, frühzeitige Übernahme der Verantwortung für die Hausaufgaben durch das Kind, offene, klare und rechtzeitige gemeinsame Gespräche über den Schulalltag und dann müsste es eigentlich klappen. Und ausreichend Zeit, um Langeweile zu erleben, faulenzen zu dürfen, Kind sein zu dürfen, Zeit für Spiel und Musik und Gemeinschaft. Soft skills schlagen Wissensskills! Ich schätze Handwerk genauso wie ein Studium – jeder nach seinen Fähigkeiten und seinem Lebensentwurf, wo es machbar ist.
Schauen wir auf das Kind und dann erkennen wir, was passt. Dann kommen wir vielleicht nicht stressfrei durch die Schulzeit, aber deutlich entspannter. Die Frage ist immer: Wer erwartet was von wem?
Loben wir alle Kinder, egal, mit welchem “Giftzettel” sie morgen heimkommen. Sie haben wieder ein Jahr geschafft und das ist toll. Und jetzt ab ins Schwimmbad mit euch! Ferien warten! Hurra!
Christine