Auch die Frau in ihrer Hütte hatte das Feuer löschen müssen, in einem Topf aber hatte sie die Glut aufbewahrt. Die Hütte war stabil gebaut, dafür hatten die beiden schon gesorgt und alles gut befestigt und gesichert.
Der Mann hatte das Vieh aus dem Stall auf das angrenzende Feld getrieben, dieses war umzäunt und sicher, so dass er keine Sorge haben musste, dass ihm das Vieh abhanden käme in dieser Nacht, in der die ganze Welt angefangen hatte zu toben.
Sorgenvoll blickte der Mann auf seine Frau in den Wehen und fragte sich, ob alles gut gehen könnte und was nun zu tun sei. Normalerweise holten die Frauen die Hebamme, wenn es losging und so fragte er auch seine Frau: „Soll ich die Hebamme holen?“ Die Frau blickte auf und meinte nur: „Nein! Das schaffe ich ganz alleine, mach dir keine Sorgen! Es wäre nur gut, wenn wir Wasser heißmachen könnten. Ich habe hier ein Büschel mit speziellen Kräutern, wenn du das aufkochen könntest, das wäre mir eine große Hilfe. Und hier habe ich ein Büschel, das zünde mir an und räuchere damit die Hütte!“
Der Mann blickte sich verzweifelt um, ob er es wagen könnte, im Herd das Feuer zu entfachen. Der Wind aber schien ein wenig nachgelassen zu haben und so schichtete er Holzscheite auf, entnahm dem Topf ein wenig Glut und blies sorgfältig das Feuer an. Als es gut brannte, setzte er einen großen Wasserkessel auf, in den er die Teekräuter einlegte. Dann griff er nach dem Kräuterbündel für die Räucherung. Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass er nichts zu fragen hatte. Sie tat oft Dinge, für die er keinerlei Erklärung hatte und immer waren sie gut gewesen. Ihre Lämmer und Kühe warfen problemlos, Krankheiten hatte es bei den Tieren keine mehr gegeben, seit die Frau in seinem Haus lebte und auch er fühlte sich immer gut und kräftig. Das fiel ihm jetzt, da seine Frau das Kind bekommen sollte, das erste Mal so richtig auf.
Er trat an das Strohbett und schaute nach der Frau. Sie bemerkte ihn gar nicht, sie war damit beschäftigt, tief zu atmen und hatte schon alles bereit gelegt, um das Kind nach der Geburt einzuwickeln und zu hüllen. Sie sprach kein Wort und er war verlegen. Normalerweise gingen die Männer in seinem Dorf vor die Hütte oder zu den Nachbarn, weil die Hebamme ihre Arbeit tat, aber dass ein Mann dabei blieb, war ihm unbekannt. Er hatte große Angst.
„Entzünde das Räucherbündel!“, hörte er die klare Stimme seiner Frau. Er riss sich zusammen und nahm den Buschen. Es waren Kräuter, die er nicht kannte. Er war erstaunt – woher besaß die Frau diese Kräuter? Diese wuchsen ganz sicher nicht im Dorf und auch nicht in dem Teil des Waldes, den er in seinen nun 25 Lebensjahren durchstreift hatte. Sie musste sie schon mitgebracht haben, damals, als er sie im Wald gefunden hatte – am Quellstein an dem Ort, der von den Menschen nicht aufgesucht werden durfte. Schon als er ein kleines Kind gewesen war, hatten ihm Mutter, Vater und die Großeltern immer wieder eingeschärft, er dürfe niemals, auch nicht bei Gefahr für Leib und Leben, auf keinen Fall den kleinen Bach übertreten, der mitten im Wald durchfloss. Auf der anderen Seite des Baches, so erzählten sich alle Alten im Dorf, lebe das kleine Volk und wenn man nicht sterben wolle, dürfe man ihren Grund niemals betreten. Noch kein menschliches Wesen sei jemals von dort zurückgekehrt und versucht hätten es in den letzten Jahrhunderten selbst die tapfersten Männer aus dem Dorf. Nachts, so raunten sich die alten Weiber beim Spinnen im Winter über den Spinnrocken gegenseitig zu, sehe man Irrlichter über dem Bach, sie leuchteten dem kleinen Volk zum Tanz der Hexen und Feen und Elfen und wer einer Fee oder Elfe ins Auge blicke, sei zum sofortigen Tod verurteilt.
Die Geschichten interessierten den Knaben sehr. Er träumte davon, eine Fee zu sehen, denn Elfen sah er schon solange er denken konnte. Sie saßen auf Blütenköpfen und nickten ihm freundlich zu. Sie sprangen herbei, wenn er stürzte und bliesen mit ihren winzigen Mündern über seine Schrammen und wie von Zauberhand heilten sie. Sie trugen Glöckchen um den Hals und wenn sie tanzten, war der Garten der Eltern voller Musik. Doch der Knabe begriff rasch, dass er darüber niemals sprechen durfte. Mehrere Male, als er von sich aus anhub, von seinen Beobachtungen zu erzählen, folgten die Schläge des Vaters auf dem Fuß und sein Vater schlug ihn sonst niemals.
Nur die Urgroßmutter verstand den Jungen. Sie nahm ihn oft bei der Hand und ging mit ihren langsamen Schritten mit ihm durch den Garten. Sie zeigte ihm, welche Pflanzen einander mochten und wie sie miteinander gesetzt werden sollten, damit sie sich gegenseitig schützen konnten. Sie zeigte ihm, dass die Glückskäferchen die Läuse von den Rosen vertrieben und dass Schmetterlinge nichts dagegen hatten, wenn kleine Elfenkinder auf ihnen reisten. Sie lehrte ihn, die Sprache der Vögel zu verstehen und brachte ihm das Lauschen auf das Lied des Windes bei. Manchmal, wenn die Nebelschwaden im November über das Land zogen, saß sie am Feuer und die Hände, die noch immer stets mit einer Strickarbeit beschäftigt waren, ruhten endlich. Dann strich sie dem Kind über den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr, wie es im Land auf der anderen Seite des Baches aussah. Dass es dort keine Zeit gebe wie im Dorf. Dass das kleine Volk seine eigenen Regeln und Gebräuche hatte. Dass er dort willkommen sei, wenn er nur Grüße bestellte von Vera. Dann geschehe ihm keinerlei Leid, wenn er auf die andere Seite des Baches käme. Und er solle dem kleinen Volk seinen linken Knöchel zeigen. Dort nämlich besaß der Knabe ein kleines Muttermal in Form von zwei ineinander verschlungenen Herzen. Sie waren allerdings so winzig, dass das Mal beim reinen Hinschauen aussah wie ein ganz normales Muttermal. Erst wenn man es mit Hilfe eines kleinen Wassertropfens anschaute, erkannte man die Form genauer. Die Großmutter hatte sehr scharfe Augen!
Eines Abends nach Weihnachten, zwischen den Jahren, als die wilde Jagd am Himmel tobte und niemand Wäsche wusch, damit sie sich nicht darin verfinge, rief die Urgroßmutter nach dem Knaben. Er trat an ihr Lager und sie überreichte ihm etwas, das in Stoff eingeschlagen war. „Tu es sofort in ein gutes Versteck hinter dem Ofen zwischen die Steine und trage stets Sorge, dass niemand es jemals findet!“ Der Junge versprach es. Die Alte sagte: „Im Bündel ist ein Schlüssel. Der Schlüssel gehört zu einem Haus auf der anderen Seite des Baches. In diesem Haus bin ich geboren und in diesem Haus lebt meine Familie bis zum heutigen Tage. Wenn ich gestorben bin, bring bitte Nachricht von meinem Tod zu meiner Familie. Wate durch den Bach auf der Lichtung, wenn die Sonne am höchsten steht. Du wirst den Weg erkennen – zwei Steine bilden den Eingang. Tritt rasch hindurch und sieh zu, dass dich kein Mensch vom Dorf dabei sieht! Du musst eine halbe Stunde auf dem Weg, der sich zeigen wird, gehen und dann kommst du an ein kleines Dorf. Dort wirst du sehen, dass der Schlüssel zu dem blauen Haus gehört. Sprich kein Wort, zu niemandem, egal, was auch geschieht! Stecke den Schlüssel in die Haustür, schließe auf und tritt sofort ins Haus. Dann schließe auf der Stelle die Tür und warte, was geschieht.“ Die Urgroßmutter atmete mühsam, lächelte den Knaben noch einmal an und starb.