# 39

Collande erwachte. Er fühlte sich enorm ausgeruht und auf eine seltsame, seit Jahrzehnten nicht mehr verspürte Art und Weise wohlig behütet. Er hörte Vogelgezwitscher, offenbar saß er in keinem Wagen mehr. Er öffnete vorsichtig die Augen zu winzigen Schlitzen, sicherheitshalber, man wusste ja nie. Sonnenschein blendete ihn, offenbar befand er sich auf einer Waldlichtung. Er beschloss, die Augen vorsichtig ein wenig weiter aufzumachen. Er hörte Stimmen in der Nähe und als er sich unbeobachtet fühlte, machte er die Augen ganz auf. Er erkannte mehrere Menschen, die um einen riesigen Tisch herum im Freien saßen und aßen. Die Alte erblickte er, dazu den alten Mann mit dem Bart, den er im Flugzeug aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Erstaunlicherweise saß da auch der Kleinwüchsige, der ihm die Uhr gegeben hatte. Und eine Menge Menschen mehr aß gemütlich, während eine ganze Kinderhorde um den Tisch herumsprang.

„Na, aufgewacht“, drang eine frische Frauenstimme an sein Ohr. Er schrak zusammen. Neben ihm saß jemand! Es war eine junge, gepflegte Frau, deren Brosche ihm sofort ins Auge fiel. Irgendwie hatte er an dieses Schmuckstück eine Erinnerung, doch er wusste nicht, welche.

„Lassen Sie uns zum Essen rübergehen, Inspektor Collande“, meinte die Frau, griff nach seiner Hand und zog ihm hoch.

„Woher kennen wir uns?“, fragte Collande verwirrt, als er merkte, dass seine Beule ganz verschwunden war.

„Sie sind doch Patient in London bei Doktor Hill, nicht wahr?“, fragte die Frau. „Und ich bin Hills Sprechstundenhilfe. Wir haben uns schon einmal gesehen!“

Collande erinnerte sich. Er hatte Hill in den letzten Jahrzehnten einige Male aufgesucht. Nicht, weil er selbst sich krank gefühlt hätte, sondern weil Hill ein unfassbares Gespür für seltsame Fälle hatte, die Collande mit keiner Recherche der Welt hatte lösen können. Er war auf Hill gestoßen, als er in Paris eines Abends seinem Leben ein Ende setzen wollte und auf einer der Brücken über der Seine gerade dabei war, sein Vorhaben umzusetzen, als eine Männerstimme sagte: „Nun, Collande, was glauben Sie – kann man sein Selbst morden, seine geistige Natur, oder geht das nicht doch nur mit dem Körper? Und was, verehrter Collande, geschieht mit Ihrer Seele, welchen Körper sollte sie denn finden, um weiterzuleben, wenn nicht den, für den sie sich entschieden hat? Lassen Sie uns lieber ein Glas Wein trinken und über Ihre durchaus nicht so verzwickte Angelegenheit sprechen, der Sie diese irrige Ansicht verdanken.“ Ein fester  Arm hatte nach Collandes Hand gegriffen und mit einem Fall flutete ihn Mut, Kraft und Energie, wie er es seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Er war ohne Widerstand mit dem Mann mitgegangen, in ein Lokal und dort speiste Collande mit einem Bärenhunger, während der Fremde ihn anschaute. Er hatte zwei verschiedenfarbige Augen, was Collande fasziniert hatte. Der Mann stellte sich als Arzt James Hill als London vor, er sei auf einer Tagung in Paris gewesen, einer Tagung für übersinnliche Phänomene. Und so habe er auf dem Heimweg ins Hotel Collande entdeckt, der sei mit Abstand das spannendste Phänomen des Tages, lachte der Arzt. Und dann berichtete er Collande von seiner Arbeit. Collande vernahm die Worte, aber in seinem Kopf hörte er dennoch die gesamte Zeit andere Dinge wie: „Collande, erinnerst du dich, als wir gemeinsam im Wald gespielt haben? Collande, denkst du manchmal noch an Diarmaid, der mit uns gelernt hat? Collande, warum hast du das alles so weit weg geschoben und vergessen?“ Collande zuckte tief erschrocken zusammen, als er förmlich angebrüllt wurde: „Collande! Hör sofort auf mit diesem Mist! Wach auf und mach deinen Job, wie du es einst gelernt hast, und komm endlich wieder an!“ Colland schrak auf. Hill lächelte. Keiner der Gäste im Lokal hatte offenbar den Schrei gehört, denn alle aßen gemütlich vor sich hin, tranken aus dicken Gläsern schweren Rotwein und genossen den Abend.

Collande starrte Hill ins Gesicht und murmelte verwirrt: „Wir haben damals im Wald gespielt. Wir waren wie Geschwister. Wir haben gemeinsam gelernt beim Alten. Aonghas! Wir waren Schüler von Aonghas. Und Diarmaid war mit uns Schüler. Er war gut. Und ja – der Kleinwüchsige ist der Neffe von Aonghas. Er ist der Bote! Der Wanderer zwischen den Zeiten! Er kann jenseits von Raum und Zeit agieren! Und Kyra! Kyra ist die schöne Frau aus dem Dorf. Und sie liebte Diarmaid, was streng verboten war. Aber Diarmaid hatte ihr auch das Leben gerettet. So war das. Ich war auch in Kyra verliebt. Wir alle waren in Kyra verliebt!“ Er seufzte.

„Willkommen daheim“, befand Hill. „Jetzt können wir wohl mal wieder anfangen, vernünftig zu arbeiten. Ich brauche deine Hilfe für einen Fall und du meine.“

So war es wieder losgegangen mit dem Kontakt zu Hill und den Erinnerungen. Dann war eine Zeit totaler Überarbeitung angebrochen und Collande hatte alles verdrängt.

Bis zu dem Moment, an dem ihm der Kleinwüchsige die Uhr getauscht hatte. Da begriff er, dass es nun heimzukehren galt.

Er schaute Kyra an und meinte „Ich bin immer noch ein bisschen in dich verliebt.“ Kyra lächelte und antwortete: „Und ich habe immer noch Hunger, Babysitten für Riesenbabys ist anstrengend.“

Sie standen auf und traten zum Tisch.

♯ 38

„Er ist nicht der Vater deines Kindes…“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Nein, nein“ Fiona atmete entsetzt aus „zum Glück nicht. Michael und ich haben uns vor fast 2 Jahren zum ersten Mal getroffen. Ich wohnte damals erst kurz hier in der Stadt, kannte niemanden und naja, wir waren kurz zusammen. Als ich mich von ihm trennte, hat er ein Riesen-Szenario aufgefahren. Zuerst war er sehr wütend und hat mir mit allem möglichen gedroht. Als er damit aber nichts erreichen konnte, änderte er seine Taktik und flehte mich an, ich wäre sein einziger Halt im Leben, mit mir würde er es schaffen. Irgendwann hatte er mich fast soweit, da tauchte einer seiner ‚Freunde’ bei uns auf und Michael war mit ihm tagelang verschwunden. Ab dem Moment war es dann endgültig vorbei. Ich habe ihn rausgeschmissen.“ Fiona schüttelte den Kopf. In den ersten Wochen war sie immer angespannt gewesen, dass Michael ihr irgendwo auflauern oder nachts an ihre Wohnungstür hämmern könnte, aber anscheinend hat er ihre Entscheidung doch akzeptiert und sie zu keiner Zeit mehr belästigt. Bis heute.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass er jetzt nach so langer Zeit wieder zurückkommt.“ Mrs. Brodie sah zu Fiona: „Menschen, mit denen man noch nicht fertig ist, trifft man immer wieder.“ Die Alte seufzte schwer. „Manchmal kreuzen sie nach vielen Jahren unvermutet noch einmal deinen Weg und alles beginnt im Prinzip wieder von vorne. Die äußeren Umstände mögen sich verändert haben, aber die Sache, um die es wirklich geht, bleibt die gleiche. Bis du es verstanden hast.“