#45

Diarmaid ergriff das Wort. Seine Stimme klang klar und hart. Jedes Wort, als sei es eine in Stein gemeißelte unumstößliche Wahrheit. Während er sprach, liefen Mordagh die Tränen über die Wangen und sie streckte ihm ihre Hände entgegen, doch Aonghas hielt sie zurück.

„Ich bin gekommen, um die Dinge zu beenden, wie es seit alters her vorhergesagt worden ist.“, begann Diarmaid. „Die Menschen haben das Kleine Volk nun endgültig vergessen. Dieser Kreis der 13 hier stellt die Letzten des Geschlechtes dar. Deshalb muss ich jetzt den Auftrag erfüllen, damit auch ich endlich sterben kann.“

Lähmendes Schweigen hing über der Lichtung.

In diesem Moment durchdröhnte der Walkürenritt von Richard Wagner die Stille. Die Magie des Augenblicks zerstob in Tausende von Fetzen. Diarmaids Gesicht verzerrte sich zur Fratze und Aonghas begann aus der Tiefe seines Bauches heraus zu lachen. Collande zog sein Handy aus der Hosentasche, murmelte ein verlegenes „Excusez-moi, aber Dienst ist Dienst“, stand auf und begann wild in sein Telefon zu sprechen. Er beendete das Gespräch rasch, klappte das Gerät zu und setzte sich wieder. „Äh, wo waren wir stehen geblieben“, fragte er, „beim Ende der Welt oder ist sie schon untergegangen zwischenrein?“ Aonghas Lachen war so ansteckend, dass die gesamte Runde in schallendes Gelächter ausbrach. Diarmaids Gesicht zuckte. „Ach, Diarmaid, lass uns das Ende der Welt noch ein wenig verschieben, bis wir uns das letzte Mal so richtig ausgelacht haben“, schlug Mordagh vor. Die Runde lachte, Diarmaid am meisten, und am Ende lagen alle vor Lachen am Boden.

„Das ganze Gekicher macht aber schon irgendwie auch hungrig“, meinte Hill nach einer Weile. „Könnten wir vor dem Finale nochmal alle zusammen was essen?“ „Schon wieder?“, fragte Kyra, doch Diarmaid meinte freundlich: „Naja, ich hatte schon lange kein Großmuttermahl mehr. Ich könnte was vertragen.“

Die Runde brach auf zum Haus der Alten. Die Blätter begannen wie wild zu wispern. Aus den Tiefen des Waldes dröhnte ein schreckliches Geräusch, doch die Runde bemerkte es vor lauter Lachen nicht.

♯ 44

Wie im Nebel nahm Fiona die Hektik der Einsatzkräfte um sich wahr, weder die Rufe der Feuerwehrleute noch die Sirene des abfahrenden Krankenwagens drangen zu ihr vor. Sie wusste, sie würde Noreen Brodie nie mehr wiedersehen. Obwohl sie sich erst vor kurzem kennengelernt hatten, hatte Fiona das Gefühl, die Greisin schon immer zu kennen. Und diese Verbundenheit würde bestehen bleiben. Schritt für Schritt ging sie von der Unglücksstelle weg, da wurde sie abrupt in die Realität zurückgeholt. „Du hast etwas in der Hand, was mir gehört.“ Michael schaute sie eiskalt an. Unwillkürlich schloss sie ihre Hand fester um die Brosche. „Sie hätte sie mir schon vor langer Zeit geben sollen. Es ist meine. Gib sie mir.“ Fiona blickte auf. Seine Augen waren dunkel vor Hass. Und Fiona sah in ihnen den Jungen, der hungrig, auf der Strasse lebend von den Brodies aufgenommen wurde, wie er heranwuchs, sich entwickelte und von Noreen in die alten Geschichten eingeweiht wurde. Das Buch, in Leder gebunden, mit einem Siegel auf der Vorderseite, welches sie in diesem alten Antiquariat nicht mehr aus den Händen legen wollte, und welches sie neben Noreens Bett auf dem Nachttisch erkannt hatte. Sie las in seinen Augen die ganze Tragödie. Er war vorgesehen, die alten Weisheiten weiterzugeben. Aber er hatte sich die Aufgabe nicht zugetraut. Zu groß war ihm die Angst erschienen, den Alten nicht gerecht zu werden. Immer mehr ist er ausgebrochen, abgetaucht in Ablenkungen, Alkohol, Drogen usw. Bis sie ihn aufgegeben haben. Auch die kurze Beziehung zu ihr, hatte ihn nicht zurückholen können. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Die Bilder in seinen Augen änderten sich. Hinter dem Hass konnte Fiona seine Hoffnungslosigkeit erkennen, seinen Schmerz, den kleinen Jungen, an den niemand mehr glaubte. Vor allem er selbst nicht.

Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, nun lag es in ihrer Hand.