Archiv für den Monat: Dezember 2015
#47
Das Mahl dauerte Stunden. Diarmaid hatte während des Essens berichtet, dass die dunkle Seite die Macht übernommen habe. Die Menschen wären so entfernt von allem, was das kleine Volk sie einst gelehrt hatte, dass nun keine Verbindung mehr sinnvoll war.
Es klopfte. Die Tür schwang auf und mit ihr drang ein Schwall eisigster Kälte herein. Die Gestalt füllte den Türrahmen vollständig aus. Dunkelheit legte sich auf alles. In Sekundenbruchteilen war das gesamte Haus zerfallen, als wäre es eine Illusion gewesen. Die 13 sprangen auf, ehe die Stühle unter ihnen zu Staub zerbröselten. Rundum standen schwarze Gestalten.
„Es ist vorbei“, sagte der Schwarze. Er wandte sich an Aonghas und Mordagh. „Wir hatten eine gute Zeit miteinander. Kommt jetzt.“
Aonghas und Mordagh traten Hand in Hand nach vorne. Aonghas ergriff seinen Stock fester und hielt ihn gegen den Schwarzen, der seinerseits seinen Stock emporgehoben hatte. Zwischen den Stöcken glühte die Luft, Funken stoben. Aoghas, Mordagh und der Schwarze waren von so grellem Licht umgeben, dass niemand mehr etwas erkennen konnte. Eine riesige Flamme schoss in der Mitte empor und es gab eine so heftige Druckwelle, dass alle von den Füßen gerissen wurden. Für den Bruchteil eines Augenblicks schien alles wie in gleißendes Licht getaucht, ehe der Schmerz, die Welle kamen und alles hinwegfegten, was dort gestanden hatte. Kyra sah im Augenwinkel, wie ein riesiger Wolf mitten in den Lichtstrahl sprang, doch dann zerbrach etwas in ihrem Kopf und sie konnte nichts mehr wahrnehmen.
Die Macht der Stäbe hatte eine riesige Welle ausgelöst und ein kreisförmiges Loch in den Wald gerissen. Nach dem Aufruhr der Druckwelle hatte es Stunden gedauert, bis auch das letzte Blatt, das hochgewirbelt worden war, zu Boden gesunken war. Dort lagen 25 Gestalten am Boden. Sie waren tot.
Einen Wolf hatte es fast zweihundert Meter weit in ein Schlehengebüsch geschleudert. Er öffnete ein Auge, dann ein zweites. Sie hatten verschiedene Farben. Der Wolf versuchte, sich aus den Dornen zu befreien. Sein Fell riss an vielen Stellen ein. Er schleppte sich mühsam zu den Gestalten. Seine Aufmerksamkeit galt zehn von ihnen. Er leckte ihnen über das Gesicht, stieß sie an und knurrte. Sein Wolfsatem strich ihnen übers Gesicht und in die Nasen hinein. Eine Stunde dauerte es, bis sich der Erste regte und ein Auge öffnete.
Drei Tage und drei Nächte vergingen, bis die zehn soweit wieder hergestellt waren, dass sie aufstehen konnte. 13 Gräber hoben sie aus und legten die Wesen hinein. Auf jedes Grab setzten sie einen Holunderbusch. Dann entfachten sie ein Feuer auf der Lichtung. Zwei Gestalten lagen auf dem Holzstoß. Als alles lichterloh brannte, bildete sich eine weiße Wolke. Sie wurde dichter und dichter, nahm eine Herzform an. Die Wolke stand über der Lichtung wie ein Mahnmal. Und als das Feuer am höchsten war und die Zweige krachend in sich zusammenfielen, regnete die Wolke ab. Jeder der zehn bemühte sich, möglichst mit unter den Regen der Wolke zu kommen. Zehn Gestalten standen auf der Lichtung um den Holzstoß, Hand in Hand. Sie weinten und schwiegen.
Am nächsten Morgen trugen sie die Asche des Holzstoßes auf der Lichtung aus. Wo immer sie den Boden berührte, schossen Pflanzen hoch. Archangelika, Mädesüß, Beerensträucher, Hunderte von Heilpflanzen bahnten sich ihren Weg ans Sonnenlicht.
Die zehn traten noch einmal zusammen. Jeder wusste, was zu tun war. Der alte Kreis existierte nicht mehr. Das kleine Volk hatte mit Aonghas und Mordagh seine Ahnen verloren. Doch sie lebten. Diarmaids Mut, sich in den Strahl der Macht zu werfen, hatte ausgereicht, dass die Macht des Bösen nicht siegte, zudem war die liebende schützende Kraft von Aonghas und Mordagh groß genug gewesen, um ihre zehn Schüler zu retten. Nun war es ihre Aufgabe, in der Welt der Menschen die Taten des kleinen Volkes zu erledigen.
Dr. James Hill blickte auf sein Handy. „Kyra, los geht’s“, meinte er. „Wenn ich es richtig sehe, müssen wir schnellstmöglich nach Hause. In wenigen Stunden werden wir angerufen. Eine Dame namens Fiona wird ihr Kind bekommen und weil wir die nächste Arztpraxis sind, wird sie sich bei uns melden. Übrigens, Kyra, sie hat etwas, das dir gehört. Allerdings“, meinte Hill lächelnd, „sie hat die zweite Fassung, die nur rufen, aber nicht heilen kann.“ „In ihrem Fall reicht das aus“, meinte Kyra. Sie seufzte.
Der Kleinwüchsige fragte „Darf ich mit? Ich würde gern wieder Brot essen. Zudem muss ich ja sehen, welche Aufgabe Diarmaid jetzt für mich hat.“ „Wieso?“, fragte Kyra verblüfft.
Der Walkürenritt schallte über die Lichtung. Collande drückte das Gespräch weg. „Naja“, meinte er vorsichtig. „Wenn ich Diarmaid richtig verstanden habe, plante er, jetzt mal als Mensch unterwegs zu sein. Und meines Wissens ist es unsere Aufgabe, Fionas Kind jetzt beizubringen, was seine Aufgabe ist.“
Die Lichtung leerte sich.
Drei Tage später stand ein schwarzer Nebel über den Gräbern. Er schien direkt aus den Grabstätten zu kommen. Er begann, sich zu verdichten.
Ein Rabe erhob sich über die Bäume. Er überlegte, wie lange er
wohl bis zu Hills Praxis brauchte, um seine Botschaft zu überbringen.
Es hatte abermals begonnen.