Khalil Gibran hat geschrieben, dass wir die abgeschossenen Pfeile unserer Eltern sind.
Haben wir denn dann überhaupt Einfluss auf unser Ziel, oder müssen wir darauf hoffen, dass unsere Eltern gute Schützen waren?
Liebe Gabi, dazu würde ich mal sagen:
Nun – warum sollten wir hoffen, dass die Eltern gute Schützen waren? Viele Menschen leiden auch im höheren Erwachsenenalter darunter, dass sie nach wie vor Erfüllungsgehilfen der Wünsche ihrer Eltern sind: “Wir konnten keine höhere Schule besuchen, wir ermöglichen es dir aber, du sollst es mal besser haben”, “du bist so begabt am Klavier”, “du kannst so gut rechnen, du wirst sicher mal Ingenieur” oder im Negativen: “Du bist eine Enttäuschung!”, “Mit der Nase musst du wenigstens klug sein, damit du dich mal durchbringst”, “in deinem Alter hatten wir schon vier Kinder und haben nicht so rumgejammert” – wir alle kennen solche Sätze.
Der Schütze entlässt den Pfeil. Er gibt also nur eine Richtung vor. Aber es gibt Wind, in die Schussbahn dummerweise fliegende Vögel, Zauberei und Magie und Karma und schnell wachsende Felsen - und das kann alles wenden. Gibran schreibt: “Ihr seid seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden. Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit, und er spannt euch mit seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen. Laßt eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein; Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.” Da steht nichts davon, dass die Eltern die Richtung vorgeben, denn in den Zeilen davor benennt Gibran ganz klar, dass wir als Kinder nicht das Eigentum unserer Eltern sind.
Wir dürfen auch nicht vergessen, was Isaac Newton an Robert Hooke – übrigens am 5. 2. 1675 oder 1676 – geschrieben hat: “Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.” Die Eltern in Gibrans Bild geben auch eine Richtung vor, sie sind die Riesen, von deren Startrampe aus jeder von uns ins Rennen geschickt wird. Aber zwischen dem Abschuss des Pfeils und dem Einschlag ins Ziel gibt es einen Abstand, Unwägbarkeiten – das Leben. Und wir dürfen auch etwas nicht aus dem Auge verlieren: Der Mensch ist mit einem freien Willen ausgestattet. Es liegt an mir selbst, ob ich den Schwung des abgeschossenen Pfeils nutzen möchte, um erstmal hoch zu fliegen, damit ich das Panorama genießen und die Flugbahn neu berechnen kann, ob ich mich zielgerichtet ins Schwarze (oder daneben) treffen lassen will oder ob ich mir sage: Ich brauche eine gewaltfreie Lösung – und mit Schwung gegen einen Felsen pralle und zerschelle.
Also keine Sorge vor dem Einfluss der Eltern oder keine Angst vor Riesen. Sie haben eine Zeitlang Bedeutung und geben uns sehr viel mit, aber wie wir unser Leben leben, ist absolut unsere Entscheidung. Dafür können wir weder Eltern noch Riesen in die Verantwortung bringen. Zu jeder Sekunde unseres Lebens haben wir die Entscheidungsfreiheit, zielgerichteter Pfeil zu sein oder nicht. Und welches Ziel wir anpeilen, ist unsere Entscheidung und – Aufgabe!